Hier darf er einfach nur Livio sein

Konfirmation

Inklusion bedeutet, dass auch jene Menschen mit Beeinträchtigungen wie Livio am kirchlichen Leben teilhaben können. Damit das gelingt, braucht es die Bereitschaft aller.

Laute Musik tönt aus dem Pfarrhaus in Schwerzenbach. Die Konfklasse trifft sich an diesem Abend Mitte Mai zur letzten Unterrichtsdoppelstunde vor ihrem grossen Tag: Am Sonntag ist Konfirmation. Pianist Sebastián Tortosa probt mit den Jugendlichen die Lieder, die sie für den Gottesdienst ausgewählt haben. «This Little Light of Mine» holpert noch etwas, doch die Stimmung ist so fröhlich wie der Gospel, den die Teenager singen. 

Als Pfarrerin Catherine McMillan kurz den Raum verlässt, um etwas zu holen, fangen die Mädchen an zu tanzen und im Rhythmus der Musik mit den Fingern zu schnippen. «I’m gonna let it shine», singen sie aus voller Kehle. Livio schaut ihnen zu, die fünf gespreizten Finger seiner linken Hand tanzen mit. Und auch seine zwei Jahre ältere Schwester Aline wippt im Takt der Musik. Jetzt steht sie auf, zupft ein Kleenex aus der Box, die hinter Livios Kopf auf dem Rollstuhl steht, wischt geübt den Speichelfaden von seinem Mund und setzt sich wieder. 

Sichtbar sein

Livio ist mit einer Behinderung auf die Welt gekommen. Er leidet an einer schweren Form von Spina bifida, auch «offener Rücken» genannt, und ist im Alltag vollständig auf Unterstützung angewiesen. 

Der 15-Jährige ist körperlich eingeschränkt. Er benötigt Sauerstoff, spricht nur bruchstückhaft und wird über eine Sonde ernährt. Dass er mit seinen Gspänli Jenny, Elin und Fadrina am Sonntag konfirmiert wird, ist alles andere als selbstverständlich und nur dank seines aussergewöhnlichen Umfelds möglich. «Bei Kindern mit einer Beeinträchtigung gibt es immer tausend Sachen zu bedenken und abzuklären», sagt Livios Mutter Franziska Herold im Gespräch bei einem Besuch Ende April in Schwerzenbach. «Denn kaum etwas läuft automatisch.»

Anders als damals seine ältere Schwester, hat Livio letzten Sommer keine Einladung für den Konfunterricht erhalten. Der Grund: Livio besuchte zwar ab der zweiten Klasse bei einer heilpädagogisch ausgebildeten Katechetin den Religionsunterricht, aber nicht in Schwerzenbach wie die anderen Kinder, sondern an der Schule für Körper- und Mehrfachbehinderte in Zürich. «Weil wir einen guten Kontakt zur Kirche haben und uns seit vielen Jahren verschiedentlich engagieren, riefen wir die Pfarrerin an und sagten: Wir haben auch noch einen Konfirmanden!» Franziska Herold lacht und ihre Familie, die um den grossen Tisch in der Wohnküche der rollstuhlgängigen Wohnung sitzt, lacht mit. 

Überall im Raum stehen Vasen mit Blumen. Die Familie war am Vortag am Sächsilüüte-Umzug, Livios 13-jährige Schwester Daria hat den Rollstuhl geschoben. «Gell, du hast am meisten Blumen bekommen von allen!», sagt Michi Herold zu Livio, der neben ihm sitzt. «Ja!», freut sich Livio und strahlt den Vater an. 

Sichtbar sein und mit ihrem behinderten Sohn am Leben teilhaben ist den Eltern wichtig. Deshalb auch die Konfirmation. Längst hatten sie sich gemeinsam Gedanken darüber gemacht, ob und wie Livio am kirchlichen Unterricht auf sinnvolle Art teilnehmen könnte.

Aline war vor drei Jahren in einem Konflager für Jugendliche mit und ohne Behinderung. «Dort kam mir die Idee, Livio zu begleiten», erzählt sie. «Es ist eine einfache Lösung, weil ich ihn ja kenne und vom Alter her nicht so weit weg bin von den übrigen Könfis.» Zudem konnte Livio Aline mit dem ihm zustehenden Assistenzbeitrag der Invalienversicherung anstellen. So kann die Gymnasiastin ihr Taschengeld aufbessern.

Das Pfarrteam der reformierten Kirche Dübendorf-Schwerzenbach war sofort einverstanden und liess sich über die nötigen Massnahmen von der landeskirchlichen Fachstelle Heilpädagogik beraten. 

Auch das ist für Franziska Herold keine Selbstverständlichkeit: «Ein Mensch mit derart schweren Beeinträchtigungen wie Livio kann sich nicht anpassen. Daher muss das Umfeld die Bereitschaft aufbringen, auf ihn und sein Tempo Rücksicht zu nehmen.» Das habe funktioniert.

Die ganze Gruppe profitiert

Von den Sommerferien bis Februar war Livio Teil der grossen Konfgruppe in Dübendorf, danach ging es in Schwerzenbach zu viert beziehungsweise mit Aline zu fünft weiter. In der Gruppe mit 29 Jugendlichen sei Livio etwas weniger gut integriert gewesen, meint Aline rückblickend. «Trotzdem konnten alle davon profitieren, da sie die Erfahrung machten, wie es ist, mit einem Menschen wie ihm zusammen zu sein.» 

Das Konflager, das in Livios Jahrgang nicht mit anderen Jugendlichen mit Behinderung stattfand, sagten die Eltern jedoch ab. Das Programm mit Klettern, Tauchen sowie Stand-up-Paddeln wäre für ihn nicht zu bewältigen gewesen. Darüber hinaus hätte Livio eine 24-Stunden-Betreuung gebraucht.

Die Herolds sind pragmatisch: «Inklusion hat auch ihre Grenzen, damit muss man leben», sagt der Vater. «Wenn 29 Konfirmanden wegen eines einzigen Teilnehmers ihr lässiges Konflager nicht abhalten können, macht das keinen Sinn.» Und mit dem ihm eigenen Humor ergänzt er: «Man kann nicht sagen, jetzt wird überall das Licht abgestellt, nur weil es blinde Menschen gibt.»

Es ist ein Geschenk, dass wir Livios Konfirmation feiern dürfen.
Michi Herold, Vater von Livio

Kurz nach 19 Uhr sind die Proben im Pfarrhaus vorbei. Pfarrerin Catherine McMillan, Fadrina, Jenny, Elin und Aline kauen Schoggigipfeli und knabbern Chips. Auch Livio ist hungrig. Aline schiebt sein T-Shirt zur Seite, drückt mit einer grossen Spritze fein püriertes Essen in den Sondenzugang an seinem Bauch. Die beiden sind ein vertrautes und eingespieltes Team. Wenn die Geschwister nebeneinandersitzen, suchen Livios Finger immer wieder den Arm oder die Hand der Schwester.

Das Glück der Gemeinschaft

Doch Livio ist auch Teil der Gruppe, er kennt die drei Mädchen von klein auf, Jenny bereits seit dem «Fiire mit de Chliine». Er könne zwar nur einzelne Wörter sagen, aber er sei eine Stimme, leiste einen Beitrag in ihrer Gemeinschaft. Und er höre zu: «Wenn ich den anderen beiden etwas erzähle, fragt er nach, wenn er es nicht versteht», sagt Jenny. Fadrina ergänzt: «Er lacht auch über unsere Witze, obwohl es halt manchmal ein Weilchen dauert. Dafür lacht er oft fünf Minuten später noch.»

Alle sind sich einig, dass es immer lustig sei mit Livio. «Dass wir ihn einbeziehen können, ist cool, es macht uns glücklich», sagt Elin. Und Jenny fügt an: «Für uns ist er nicht ‹der im Rollstuhl›, sondern Livio.»

Dass wir Livio einbeziehen können, ist cool, es macht uns glücklich.
Elin, Konfirmandin

Catherine McMillan ist überzeugt, dass es im Konfunterricht genau darum geht: miteinander Beziehung leben, Verständnis füreinander bekommen, Gottvertrauen und Selbstvertrauen stärken. Manchmal helfe ein Bibeltext dabei. Die Pfarrerin ist froh, dass Aline Livio begleitet. Sie gibt zu, dass sie es sich nicht zugetraut hatte, dafür allein die Verantwortung zu übernehmen.

Aline leistet ausserdem wertvolle Übersetzungsarbeit. Beim Lebenslaufgespräch stellte sich heraus, dass Livio, ganz der Teenager, gern lang schläft. Sein zugeloster Konfspruch, Psalm 3,6, passt deshalb gut: «Ich legte mich nieder und schlief. Als ich erwachte, wusste ich: Gott hält seine Hand über mich.» Tröstliche Worte für die ganze Familie, die schon mehrfach erlebte, dass Livio beinahe gestorben wäre. «Wir haben grosses Gottvertrauen», hatte Michi Herold am Küchentisch gesagt. «Es ist ein Geschenk, dass wir Livios Konfirmation feiern dürfen.» 

Der grosse Tag

Sonntag, 18. Mai. Die Sonne scheint, die kleine Kirche ist bis auf den allerletzten Platz gefüllt und festlich geschmückt. Am Vortag haben die Jugendlichen auf der Wiese hinter der Kirche gelben Hahnenfuss gepflückt und in die kleinen Vasen bei den Kirchenbänken gesteckt. 

Elegant gekleidet führen nun Fadrina, Elin und Jenny gemeinsam mit Catherine McMillan durch den Gottesdienst. Livio, der ein stilvolles Blumenhemd trägt, wird immer wieder einbezogen und sein Text mit Piktogrammen eingeblendet. 

Zwischen den Fürbittengebeten ruft er jeweils «Halleluja». Danach singen alle den Refrain des gleichnamigen Lieds von Leonard Cohen. So wie es sich Livio gewünscht hat. 

Nach einer Stunde ist der Gottesdienst zu Ende. Die Leute stehen auf, sind sichtlich berührt. Während Jenny, Elin, Livio und Fadrina vor der Kirche für die Konffotos posieren, bleibt Aline auf der vordersten Bank einen Moment alleine sitzen und blickt auf den leeren Chorraum, ein Lächeln auf dem Gesicht. Es erzählt vom Glück zu spüren, dass ihr Bruder dazugehört. So, wie er ist.

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